Na endlich: Für die indische Hauptstadt Delhi gilt jetzt ein absolutes Verbot von Plastik-Tüten. Absolut? Na mal sehen. Immerhin: ein längst überfälliger Anfang ist gemacht. Denn ganz Indien versinkt in Bergen von Müll. Das kann auch ein so begeisterter Indien-Fan wie ich nicht übersehen. Im Gegenteil, gerade weil ich so von Indien begeistert bin, stinkt mir die Sache gewaltig und es ärgert mich, wenn der allgegenwärtige Dreck viele Erstbesucher schockiert. Sooft ich die Frage stelle, warum in Indien so wenig getan wird, um das Problem in den Griff zu bekommen, höre ich: „It’s because of overpopulation“, also Überbevölkerung.
Sicher, das mag mit ein Grund sein. Aber nicht der einzige. Ich erinnere mich an eine Szene aus den frühen 80-iger Jahren des 20. Jahrhunderts bei einem meiner ersten Besuche in Indien. Es war in Bangalore, als ich vom Balkon meines Hotels beobachtete, wie ein Küchenjunge Abfälle entsorgte. Er schleppte, Töpfe mit Essensresten auf die Straße und kippte sie in einen großen Betonring. Ach du liebe Zeit, das würde bestimmt die Ratten anlocken. Ich spurtete zum Hotel-Manager und lamentierte über solche Gedankenlosigkeit. Der gute Mann schaute mich ziemlich verständnislos an und schickte mich mit einem lapidaren „That’s not a problem“ davon. Na, dann gute Nacht. Das hatte ich längst gelernt: wenn Dich ein Inder mit den Worten „no problem“ beruhigen will, dann kannst Du sicher sein : Die Kacke ist am Dampfen.
Wütend über die Ignoranz des Managers verzog ich mich auf den Balkon, wild entschlossen, mich jetzt so richtig aufzuregen. Aber inzwischen hatte sich um den Betonring ein kleiner Zoo eingefunden. Ein alter Esel und zwei mickrige Kühe machten sich über die abgegessenen „Teller“ her – große Bananenblätter auf denen in Südindien das Menu aufgetischt wird. Ganz schön praktisch, dachte ich. Solche Teller kostet so gut wie nichts, sie sind immer sauber und müssen weder gespült noch gestapelt werden. Die Entsorgung übernehmen mit großem Appetit die auf den Straßen herumstreunenden Rindviecher, aber auch die putzigen wildschweinartigen Ferkel. Viele Genießer behaupten: nur wenn das Essen auf einem Bananenblatt serviert werde, entfalte sich der richtige Geschmack des Gerichts. Und gesund sei es sowieso.
Kühe, Wasserbüffel und Esel sind aber nicht die einzigen, die es an die Tafel im Betonring lockt. Köter schnappen nach Essensresten, streiten sich mit Krähen um das letzte Reiskorn und tatsächlich huschen bald auch ein paar Ratten herbei. Nach kaum 30 Minuten ist alles verputzt und der Platz ist sauber – buchstäblich wie geleckt. Die großen und kleinen Müllschlucker hatten ganze Arbeit geleistet. Das Müllproblem hatte sich von selbst erledigt. Selbst die Papierreste, die eindeutig der Verpackung einer fettigen Speise gedient hatte, war von der Kuh mit Appetit verputzt worden.
Das erinnert mich an ein witziges Wortgefecht, das wenige Tage zuvor auf einer langen Zugfahrt von Calcutta nach Hyderabad miterlebt hatte. Da hatten sich zwei Mitreisende darüber ereifert, ob Kuhmilch nun vegetarisch sei oder nicht. Da ging es aber nicht, wie ich zunächst vermutet hatte, um die Frage vegan oder nicht „nur“ vegetarisch. Einer der beiden Streithähne hatte sich nämlich darauf kapriziert, die Kuh sei ein Allesfresser, da sie vom Müll auch Verpackungsmaterial verputze, das unter Umständen auch Fleisch enthalten habe. Deshalb könne Milch nie und immer vegetarisch sein.
All das ist gut und gerne die Jahrzehnte her, und die Zeit, in der man das indische Müllproblem mit Humor diskutieren konnte leider vorbei. Schuld daran ist vor allem der gedankenlose Einsatz von Plastiktüten. Früher verpackten Händler ihre Waren in Zeitungspapier oder große Blätter, die man einfach wegwerfen konnte, weil sie sowie schnell verrotteten. Teebuden und Kaffeeboys aber die fliegenden Händler im Zug schenkten ihre Getränke in Tässchen aus ungebranntem Ton aus, die man nach Gebrauch einfach in den Straßengraben oder aus dem Zugfenster schmeißen konnte, weil sie sowieso beim nächsten Regen wieder zu Schlamm wurden.
Heute hat sich die Unsitte verbreitet, jeden noch so winzigen Kauf – und sei es nur ein Bleistift – dem Kunden in einem Plastiktütchen zu überreichen. Und statt in Tontässchen werden Heißgetränke heute in Plastikbessern serviert. An der Gewohnheit, Abfälle einfach irgendwo hin zu werfen, hat sich allerdings nichts geändert. Wen die Abfallberge vor der eigenen Tür stören, macht sich vielleicht die Mühe den Gehweg vor dem Nachbarhaus mit seinem Dreck zu schmücken. Indien hat deshalb ein riesiges Müllproblem. Für viele Touristen ist der allzu nonchalante Umgang mit dem Abfall eine Tatsache, die in Erinnerung bleibt und das Staunen über die Zeugen einer großartigen Kultur und den bunten Alltag in den Hintergrund treten lässt. Endlich haben die Verantwortlichen erkannt, dass so das ehrgeizige Ziel, mehr Touristen nach Indien zu locken, kaum zu schaffen ist. Diese Einsicht geht einher mit der Ahnung, dass die Ferkelei die Tourismus-Industrie um schöne Einnahmen bringt, und neuerdings auch mit der Botschaft, dass sich mit Dreck Geld machen lässt.
Die Stadt Kanpur in Uttar Pradesh ist hier mit gutem Beispiel vorangegangen. Dort wurde die Müllverwertung in private Hände gegeben. Und siehe da: die Stadt ist nicht nur sauberer geworden – Einnahmen aus Recycling wertvoller Rohstoffe wie Glas, Papier und Plastik, Energiegewinnung aus Restmüll und fruchtbarer Kompost aus biologisch abbaubarem Material haben neue Wirtschaftszweige entstehen lassen und Arbeitsplätze geschaffen. Ganz besonders profitieren davon auch die Ärmsten der Armen, die Lumpensammler, die bisher die riesigen mehr oder weniger legalen Müllkippen im Umfeld der Stadt nach Brauchbarem filzten. In Kanpur sind sie heute als fest angestellte Müllsammler von Haus zu Haus unterwegs und sorgen dafür, dass der Dreck gleich dorthin kommt, wo buchstäblich das Beste daraus gemacht wird. Wenn so etwas im notorisch unterentwickelten Uttar Pradesh, wo bis heute ein Großteil der Einwohner Analphabeten sind klappt, warum sollte es beispielsweise in Indiens Musterländle Kerala, das sich rühmt, zu 100 Prozent alphabetisiert zu sein, nicht möglich sein? Tatsächlich wurde kürzlich beim Kerala Travel Mart in Cochin vehement gefordert, mit dem Müll endlich aufzuräumen.
Ob allerdings mehr Bildung auch mehr Saubermänner hervorbringt? Gestern war ich mit dem Auto auf der Autobahn unterwegs. Beim der Abfahrt, fiel mir wieder einmal auf, dass auch hier anonyme Umweltschweine unterwegs sind und die zur dieser Jahreszeit kahlen Büsche, Straßengräben und Böschungen mit Erinnerung an den letzten Besuch im Fast-Food-Restaurant schmücken oder auf dem Parkplatz hinter unserem Büro ihre Aschenbecher leeren. Ganz zu schweigen von den Intelligenzbolzen, die es spaßig finden, den Inhalt der öffentlichen Abfalleimer neben der Bushaltestelle auszubreiten. Ich brauche also nicht bis nach Indien fliegen, um mich über ein Müllproblem aufzuregen.