Heiraten, wo der Pfeffer wächst – »Monsoon Wedding« – die Regenzeit gilt in Indien als besonders glücksverheißend
Andrea Knigge aus Göttingen ist seit vielen Jahren von Indien begeistert. Mehrfach war sie bereits mit COMTOUR im Land ihre Träume. Zuletzt war sie während der Regenzeit zu Gast bei einer echten indischen Märchenhochzeit in der Nähe der südindischen Provinzhauptstadt Trichur. Von den vielfältigen Eindrücken berichtet sie in einem Gastbeitrag für meinen Blog. Wenn dieser Beitrag online geht, ist Andrea Knigge bereits wieder unterwegs nach Südindien. Zu einer Ayurveda-Kur im Meiveda Resort am Nattika Beach in Kerala.
Vom Boden bis zur Decke Regale vollgestopft mit farbenprächtigen Träumen aus edlen Stoffen: um mich herum leuchtende Saris, phantasievolle Kombinationen aus Oberteil, bodenlangem Rock und meterlangem Schal, überbordende Musterfülle und Stickereien, es glitzert und glänzt. Vor den Regalwänden weiße Laufstege, auf denen gleich mehrere Angestellte – sie alle im einheitlichen Sari – nach meiner groben Farb- und Preisvorgabe verschiedene Prachtstücke ausbreiten, die ich begutachte und befühle, verwerfe oder für eine Anprobe auswähle.
Ich befinde mich im dritten Stock von Jayalakshmi, »The bridal destination«, der ersten Adresse für Brautmode im zur südindischen Metropole Kochi gehörenden Stadtteil Ernakulam. Das hat seinen Grund: Ich bin zu einer Hochzeit nach Kerala eingeladen. Kerala gilt als der indische Vorzeigestaat mit der höchsten Alphabetisierungsquote und der höchsten Lebenserwartung im ganzen Land. Mein indischer Freund Shankar hat über eine Anzeige eine gute Partie für seine 25-jährige Tochter Sunaina gefunden und nun soll, nachdem das Brautpaar während ein paar Monaten Gelegenheit hatte, sich kennen zu lernen, über mehrere Tage gefeiert werden.
Bis zu 500 Gäste werden für das Hauptritual erwartet. Es ist Monsunzeit: Die Regenzeit, in der sich nach quälenden trocken-heißen Monaten manchmal tagelang heftige und weniger heftige Schauer abwechseln und alles in eine durchdringende Feuchtigkeit getaucht ist, gilt als besonders glücksverheißend.
Ich bin die einzige in dem luxuriösen und angenehm klimatisierten Bekleidungshaus, die allein ihre Kaufentscheidung treffen muss. Andere sind in Gruppen gekommen, um gemeinsam für anstehende Hochzeiten einkaufen. Ohne ein gewisses Maß an Vorstellungen und Fokussierung ist man hoffnungslos verloren. Die Inderinnen haben Erfahrung mit diesem speziellen Shoppingerlebnis und wissen auch, wann es besser ist, doch noch anderswo weiter zu suchen. Ich aber werde nach einer Weile fündig und der Kauf wird mit einem Glas süßem Gewürz-Tee mit Milch besiegelt.
Heema, die Wirtin in meiner kleinen Pension am Meer, erwartet mich neugierig zurück. Ich hatte ihr von meinen Vorhaben erzählt, mich für die Hochzeit vor Ort angemessen auszustatten. Darauf hatte sie mir eine Liste von Adressen gegeben, die ich notfalls eine nach der anderen mit dem Tuk-Tuk, der dreirädrigen Motorrikscha, abklappern könnte. Meine Auswahl findet ihren Gefallen. Und sie nimmt sich die Zeit, hier und da noch mit Nadel und Faden etwas zu korrigieren, mir den Schal kunstvoll so zu raffen und festzustecken, dass er wie selbstverständlich elegant von den Schultern fließt, und Schmuck samt Bindi (Stirnschmuck) und Make-up zusammenzustellen. Ein großes Vergnügen unter Frauen! Die Braut wird natürlich echtes Gold tragen. Für die Traumhochzeitsfotos tut es bei den Gästen auch »fancy jewellery«, die es in überbordenden Auslagen allenthalben zu erstehen gibt.
Der erste Teil der Hochzeitsfeierlichkeiten ist einer nordindischen Tradition entlehnt und beginnt am frühen Abend in einem Hotel in der Heimatstadt der Braut. Mit 70 Gästen ist das nur eine relativ kleine »function«, ein ungezwungener fröhlicher Abend. Die Braut hatte sich ein solches »sangeet«, bei dem Verwandte und Freunde gemeinsam musizieren, gewünscht. Die Familie meines Freundes ist sehr musikalisch, einige Mitglieder haben sogar eine klassische Gesangsausbildung absolviert. Und so komme ich in den Genuss einiger wunderschöner Gesangsdarbietungen im Karaokestil – von heiteren Filmmelodien mit viel »dil« (Herz) und »pyar« (Liebe) aus der Bollywood-Schublade bis hin zu klassischen Bhajans, wechselweise auf Hindi und Malayalam, der Lokalsprache Keralas, vorgetragen. Irgendwann erst wird mir klar, dass ich den Bräutigam noch gar nicht gesehen habe – der weilt noch mit seiner Familie in seiner 200 Kilometer entfernten Heimatstadt, und man wird sich erst am nächsten Tag sehen.
Ein schöner Brauch ist es, dass sich die Braut mit Betelblättern in den Händen auf dem Boden platziert. Wer dann möchte, darf aus einer Hennaspritztube etwas Farbe auf diese Blätter drücken. So ist auch mir eine erste kleine Kontaktaufnahme mit der Braut möglich, die ich bis dato noch gar nicht kannte. Auch kann ich ihr zwischendurch mein Geschenk, ein italienisches Parfum, zu dem mir eine Bekannte geraten hatte, überreichen. Da ich nicht mit der Braut verwandt oder näher bekannt bin, bin ich von den hochkomplizierten traditionellen Gabentransfers ausgenommen.
Im Laufe des Abends finden die Jungen im Autoquartettspielalter ihr Vergnügen, die Hände der anwesenden Frauen mit zarten Hennamustern zu bemalen. In Windeseile entsteht auf jeder Hand ein individuelles florales Muster. Da die Farbe eine Weile braucht, um zu trocknen, und man stillhalten muss, um sie nicht zu verwischen, entgeht mir so manche Gelegenheit zum Fotografieren. Wer mag, darf dann noch der Braut seine ganz individuellen guten Wünsche übers Mikrofon aussprechen. Die Braut lächelt fröhlich-verschmitzt, bedankt sich, kichert gelegentlich und bedauert schon ein wenig, künftig fern zu sein von den ihr so lieben Menschen, »aber zum Glück gibt’s ja WhatsApp!«
Und dann cut: Das Licht wird gedimmt, aus den Lautsprechern kracht Technomusik! DJ John aus Kochi legt auf. Die Braut im grün-rot-goldenen Sari wird zur Disco-Queen, wir tanzen ausgelassen und bei Latinrhythmen entpuppt sich auch der eine oder andere indische Mann als Salsa-King. Die zierlichen älteren Damen mit langem grauem Haar scheinen sich auch an diesen Darbietungen zu erfreuen und quittieren manchen Tanz mit anerkennenden Worten.
Stärkung gibt es zwischendurch am Buffet, heute noch mit Fisch und Fleisch, ab morgen muss es dann nach den Hinduregeln vegetarische Kost sein. Und da ja noch viele Programmpunkte bevorstehen, wird das »sangeet« gegen Mitternacht von einem Moment auf den anderen vom Brautvater für beendet erklärt.
Am folgenden Tag bricht die gesamte Hochzeitsgesellschaft in gecharterten Minibussen auf nach Guruvayur. Der dortige angeblich jahrtausendealte Krishna-Tempel zählt zu den bedeutendsten hinduistischen Pilgerstädten Keralas. Um den weitläufigen Tempelkomplex gruppieren sich zahlreiche Hotels, die auf die Pilgermassen ebenso abgestimmt sind wie auf Hochzeitsgesellschaften.
Viele Hindus suchen die Stadt einmal im Jahr auf für ein paar Tage der Einkehr. Das ist auch für ganz wenige Rupien möglich, und täglich finden im heiligen Bezirk des Tempels kostenlose Speisungen statt. Der Hinduismus ist eine für Europäer schwer fassbare und komplexe Religion, der gut 80 Prozent aller Inder angehören. Kern ist der ewige Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Die Religion ist nicht institutionalisiert, sie kennt unzählige Götter, die alle nur einen Teilaspekt des großen Ganzen darstellen und jeweils eine Hilfe auf dem Weg der göttlichen Ordnung sein können, um die Erlösung aus dem Geburtenkreislauf zu erreichen. Ein paar Tage zu pilgern bedeutet nicht unbedingt völlige innere Abschottung. So grüsst der schmerbäuchige bärtige Pilger im weißen Dhoti mit aufgemaltem Stirnzeichen und Gebetsmala um den freien Oberkörper fröhlich lächelnd die hellhäutige Touristin mit »Where you come from?« – »Germany.« – »Ah, Germany, good country. I am from Chennai …« und folgt weiter der Schlange zum heiligen Bezirk, der für Nicht-Hindus tabu ist.
Ein Teil der Hochzeitsgäste nutzt die Ankunft in Guruvayur zu einem Tempelbesuch, nachdem man sich in den Zimmern installiert hat. Das Hotel hält hauptsächlich Mehrbettzimmer bereit. Das ist für Inder völlig normal; in dem bevölkerungsreichen Land erprobt sich zwangsweise von Anfang an ein natürlicher Umgang mit Distanz und Nähe. So ist es wohl nur eine Frage der Gewohnheit, dass das Quartierbeziehen nicht nur vom Geschnatter der Mitbewohnerinnen, sondern auch vom plärrenden Fernseher, in dem hauptsächlich Casting- und Spielshows laufen, begleitet ist. Dafür gibt es Hilfe beim Anlegen der Kleidung, Austauschmöglichkeiten fürs Make-up und die eine oder andere Weisheit von Frau zu Frau …
Die Braut wird sich für den Hauptteil des Hochzeitsfestes mehrfach umkleiden müssen – für jede »function« ein neuer Sari mit allen nötigen Accessoires. Ich vermute, diese absolute Absorbiertheit von Ritualen und dem Eingebundensein habe den Vorteil, dass so keinerlei Zeit für Emotionen bleibt, denn der jungen Frau muss ja klar sein, dass sie vom Tag ihrer Hochzeit an dem Elternhaus den Rücken kehrt, um mit ihrem Mann zu leben. In vielen Fällen dann in der Schwiegerfamilie, die sie oft nur aus den Anbahnungsverhandlungen kennen kann. In »meinem« Fall wird das junge Paar bald zusammen nach Dubai ziehen. In den Emiraten haben viele Keralesen, so auch der Bräutigam, zum Teil gut bezahlte Jobs gefunden und bringen über diesen Umweg auch einen gewissen materiellen Wohlstand in ihr Heimatland zurück. »Die Emotionen kommen, später, wenn alles vorbei ist«, weiß meine Zimmergenossin Kamala.
Die Familie des Bräutigams ist inzwischen auch eingetroffen. Besonders mein Freund Shankar und seine Frau Gheeta sind etwas angespannt: Der große Tag, den sie monatelang vorbereitet haben, steht bevor.
Die verschiedenen Rituale sind vorgegeben, allerdings wird dem Gast aus Deutschland der genaue Zeitplan nicht klar. Und den gibt es scheinbar auch nicht, aber es ist immer jemand in der Nähe, der mich aufmerksam hinstupst, wenn etwas irgendwo losgehen soll – überhaupt erfahre ich die ganze Zeit eine große unaufgeregte Herzlichkeit der Mitfeiernden, die mich sehr wohlfühlen lässt an diesen drei Ausnahmetagen.
Und so brechen wir im Laufe des Vormittags gemeinsam zum Tempel auf, wo schon mehrere Brautpaare mit ihren Hochzeitsgesellschaften in einer Art Arkadengang Schlange stehen – Massenabfertigung an diesem Tag. Auf einem kleinen Podest vollzieht ein Priester mit dem Paar das »thalikettu« genannte Ritual des Festzurrens des Hochzeitsbandes, es gibt ein symbolisches Umschreiten des Feuers – ein Zeremonie, die in Nordindien wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt und hier in wenigen Minuten über die Bühne geht
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Das Paar, das vor Sunaina und Umesh an der Reihe ist, wirkt sehr ernst und angestrengt, beinahe ein bisschen verschreckt. »Meine« beiden hingegen vermitteln den Eindruck, als hätten sie sich selbst gefunden, sie strahlen stolz und würdevoll in alle Richtungen und folgen den Ritualen voller Hingabe. Bemerkenswerterweise haben sich die Eltern von Sunaina bei einem Fest ineinander verliebt und auch der Bruder Sandeep ist mit seiner Frau Lalita eine Liebesheirat eingegangen. »Bei manchen ist es so, bei anderen so«, erklärt mir Kamala lakonisch.
Es folgt noch eine Reihe von anderen Bräuchen, diesmal in der großen »weddinghall«, in der Stuhlreihen mit Plätzen für nun mehrere Hundert Menschen aufgestellt sind. Das Geschehen spielt sich jetzt auf einer Bühne ab, die umsäumt ist von Tausenden von Blumengirlanden und dekoriert mit prunkvollen Götterbildern und -statuen. Sehr präsent ist ein großer Ganesha, der elefantenköpfige Gott und Überwinder aller Hindernisse. Alles wird festgehalten im Scheinwerferlicht von mehreren Foto- und Filmkameras, eine Videodrohne saust dazu durch den Saal, um auch die Perspektive von oben einzufangen.
Nach und nach, mit Pausen, treten verschiedene Personengruppen auf die Bühne, so auch die Eltern und die näheren Verwandten. Sie zeigen sich mit bunten Fächern, schütten Reis aus Säcken, das Brautpaar wird mit schweren Blumengirlanden umhängt und wirkt jedes Mal noch prachtvoller, der Bräutigam übergibt symbolisch einen Sari, es werden Goldketten getauscht. Alles hat symbolischen Wert. Die Gäste genießen still den Anblick oder finden sich zum Plaudern zusammen. Begleitet wird das Ganze von einem sechsköpfigen Orchester, das ergreifend schön klassische Ragas auf traditionellen Instrumenten wie Bambusflöte, Mridangam, Tabla und Violine spielt. Jede Szene, die die Kameras einfangen, wird zur perfekten Inszenierung.
Wie soll man sich nun ein Hochzeitsessen mit 500 Menschen vorstellen? Ich bekomme plötzlich die Ansage, jetzt sei »lunchtime«, und werde in einen Raum gebeten, in dem mehrere lange Tafeln nur auf jeweils einer Seite landestypisch gedeckt sind mit frischen Bananenblättern statt mit Tellern.
Auf der anderen Seite defilieren Kellner mit Aluminiumbehältern vorbei und verteilen daraus verschiedene Gerichte auf die Blätter: Chutneys mit frischen Kokosraspeln, scharfe Pickles, verschiedene schmackhafte Gemüsecurrys, dazu knusprige Pappadams, zubereitet in Kokosfett und mit Gewürzen wie Kardamom, Pfeffer, Zimt und Chili, und natürlich der lokale Reis, der dicker und rundlicher ist als der allseits beliebte und teurere Basmatireis.
In den Reis mischt man mit der rechten (!) Hand die anderen Gerichte, um alles dann zügig von der Handinnenfläche, mit dem Daumen schiebend, im Mund verschwinden zu lassen. Das geht auch mit den Süßspeisen, wenn man dazu die noch süßeren Pfannkuchen zu Hilfe nimmt. Ob ich das Essen genieße? Ein Hochzeitsessen hatte ich mir etwas gemütlicher vorgestellt, aber die nächste Schicht Gäste steht schon vor der Tür, und kaum sind wir mit dem Essen fertig, werden schon die Reste in den Bananenblättern mit den Papiertischtüchern eingerollt und entsorgt.
Es bleibt noch Zeit, auch auf die Bühne zu treten und an dem unermüdlich stolz strahlenden Brautpaar vorbeizuflanieren und ihm gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. Ein erneuter Kleiderwechsel steht an. Diesmal wird der Bräutigam einen westlichen Anzug tragen statt des traditionellen Dhoti und der langen Seidenkurta.
So wird er sich beim Abendempfang im Haus seiner Eltern für einen kleineren Familienkreis und weitere Hochglanzfotos präsentieren. Nach ein paar Tagen wird das Paar dann nach Dubai in ihre gemeinsame Zukunft aufbrechen.
Etwas mehr als eine Woche nach dem Fest ist die Hennabemalung auf meinen Händen allmählich verblasst, aber die Erinnerung an Farben, Gerüche, Geräusche und andere Sinneseindrücke der südindischen Hochzeit bleibt auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland sehr lebendig.