18 Stunden im Takt der Schienen – mit der Bahn von Cochin bis Gokarna

30.09.2012

Der offizielle Teil des KTM (Kerala Travel Mart) ist mit einer Party im Brunton  Boatyard Hotel geendet. Ich habe mich mit Rai verquatscht. Mein Fahrer, der mich zum Bahnhof bringen soll, ist schon supernervös. Der Zug nach Mangalore geht laut Fahrplan um 23.55 Uhr. Jetzt ist es 23.35 Uhr. Joseph tritt das  Gaspedal fast bis zum Straßenbelag durch und hupt alle zehn Sekunden. Aber das beeindruckt höchstens die Köter, die es sich mitten auf der Straße bequem gemacht haben und sich jetzt eher missmutig als verärgert zur  Seite trollen.

Joseph jammert. Wir kommen bestimmt zu spät. Ich beruhige ihn. Der Zug hat bestimmt sowieso  Verspätung. Vor ein paar Jahren habe ich auf den gleichen Zug genau hier schon mal geschlagene drei Stunden gewartet.

Joseph lässt sich nicht beirren und gibt Gas. 23.54 Uhr: Wir sind am Bahnhof. Keine Minute zu früh – der Zug rollt gerade ein. Jetzt muss ich doch mindesten einen Zahn zulegen, denn es gilt, meinen Platz zu suchen. In der unreservierbaren Dritten Klasse hocken sie schon aufeinander wie in der sprichwörtlichen Ölsardinenbüchse. Aber ich habe zum Glück eine vorgebuchte Liege in der klimatisierten Zweiten Klasse. Aber wo ist der entsprechende Wagon?

Ich zerre meinen Koffer hinter mir her und wundere mich irgendwie über irgendetwas. Worüber, da muss ich mir später klar werden. Endlich habe ich den Wagon gefunden, da bimmelt auch schon das Signal zur Abfahrt. Geschafft!

Noch lange nicht. Im Wagon ist es stockdunkel, die Vorhänge zu den Schlafabteilen sind schon zugezogen. Es ist schließlich schon nach Mitternacht. In der Zweiten  Klasse gibt es auf der einen Seite des Gangs jeweils zwei quer zur Fahrtrichtung angeordnete Liegen in unteren Etage und die gleiche Konstellation noch mal ein Stockwerk darüber. Auf der anderen Seite des Gangs gibt es zwei übereinander platzierte Liegen in Fahrtrichtung. Wer so eine erwischt, kriegt bei jedem Stopp eine ordentliche Kopfnuss.

Laut Ticket sollte mir das erspart bleiben. Für mich ist eine der unteren Liegen quer zur Fahrtrichtung reserviert. Aber  wo ist mein Platz, verdammt noch mal?

Es bleibt mir nichts anderes übrig – ich muss hinter jeden Vorhang schauen. Wo ist eine freie Liege? Wo ist mein Bett? Endlich taucht der Schaffner auf, einen weiteren verzweifelt suchenden Passagier im Schlepptau. Zielsicher reißt der Beamte einen Vorhang auf und verweist Schweinsteiger und Michael Jackson, die es sich in der unter Abteilung gemütlich gemacht haben, des Feldes.

Den beiden, die sich mit  der Wahl ihrer T-Shirts offensichtlich zu ihren Vorlieben bekennen, stinkt diese  Entwicklung offensichtlich. Sie wollen wohl lieber mit den Kumpels im oberen Stockwerk klönen: Sharukh Khan und Bob Marley – deren Portraits schmücken jedenfalls die T-Shirts. Die vier wollen mit uns handeln. Mit dem Schaffner, dem zweiten Neuankömmling und mir. Wir sollen auf die Plätze auf der anderen Seite  des Ganges ausweichen. Ich bin  nicht scharf auf nächtliche Kopfnüsse und auch nicht auf eine Kletterpartie. Der andere poltert. Was sich die vier Hosenscheißer erlauben würden, er sei schließlich Politiker, Schuldirektor, Klinikchef und wer weiß noch was. Der Schaffner ist beeindruckt, die zwei überzähligen Youngster ziehen maulend ab. Als Schweinsteiger die Seite wechselt, grunzt es. Direkt aus seiner Hose. Ob er ahnt, dass der Klingelton zum Trikot passt?

Wie auf Kommando lassen alle vier ihre Handys sprechen. Sharukh Khan meldet sich mit einer Bollywood-Schnulze, Michael Jackson mit „Thriller“, Schweinsteiger – wie gesagt – hat ein Ferkel als akustisches Erkennungszeichen. Bob Marley fällt aus der Rolle und bekennt sich mit Beethovens „Für Elise“ zur abendländischen Kultur.

Ich kann  mich nicht bremsen, ihn darauf anzusprechen. Er möge diesen netten Popsong eben, bekennt er.  Ach so.

In einem gewissen Umfeld hat Klassische Musik aus dem Westen tatsächlich auch in Indien einen  festen Platz. Vivaldi, Bach, Händel und Mozart müssen oft als Hintergrund-Berieselung in gehobenen Restaurants herhalten. Ich erinnere mich an ein Erlebnis im Coffey Shop des Taj Mahal Hotels in Bombay: Dort lief während des Essens der erste Satz der „Vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi vom Band. Soweit so gut. ABER! Das Band setzte jedes Mal unmittelbar vor der Auflösung des Leitmotivs aus und startete ganz von vorn. Das nervt mit der Zeit gewaltig. Nachdem ich den Kellner bereits dreimal vergeblich gebeten hatte, mir die nächste unvollendte Wiederholung zu ersparen, ließ er mich im Brustton der Überzeugung wissen: „Sir, this is western pop music!“ Wenn das so ist. Gegen solches Fachwissen gibt es eben keine Einwände.

Jetzt also Elise.

Der Schaffner bringt Bettzeug: für jeden Fahrgast jeweils eine Wolldecke, zwei weiße Laken und ein frisch bezogenes Kopfkissen.

01.Oktober 2010

Es ist jetzt 01.25 Uhr, der Zug tuckert nach  Norden. Verhältnismäßig sanft, wenn ich mich an frühere Nachtfahrten erinnere. Da müssen etliche Modernisierungsmaßnahmen erfolgt sein. Noch knapp neun Stunden bis Mangalore, meinem ersten Etappenziel.

Eine Klingelton-Kakophonie schreckt mich auf: es grunzt und thrillert und Bollywood samt Elise melden sich ebenfalls zu Wort. Es ist jetzt 03.45 Uhr, wahrscheinlich müssen die Youngster gleich aussteigen. Komischerweise lassen sie ihre Klamotten zurück. Als ich kurz darauf zum Pinkeln gehe, erwische ich die vier an der offenen Zugtür beim Rauchen. Wenig später krabbeln sie wieder in ihre Kojen. Einer lässt noch einmal Dampf ab, ich glaube, es war Marley, aber es riecht so gar nicht nach Elise, sondern eher nach Curry. Dann war es wohl doch Sharukh Khan.

Gegen halb sechs kräht der Hahn – Mr. Politiker? Schuldirektor? Klinikchef? hat auf seinem Handy diesen tierischen Weckruf eingestellt. Wir erreichen in Kürze Kannur. Dort muss er raus. Schweinsteiger und Co sind irgendwann zwischendurch verduftet. Ich habe nichts davon mitbekommen.

Es wird allmählich hell. Ich packe mein Bettzeug zusammen, klappe die Liege nach oben und rücke ans Fenster.

Draußen herrscht schon hektische Betriebsamkeit. Wie noch vor 30 Jahren, als ich erstmals mit der indischen Eisenbahn sieben Wochen lang kreuz und quer durch dieses riesige Land gezuckelt bin, pilgert ein Großteil der Landbevölkerung jeden Morgen zum Bahndamm, bewaffnet mit einem Eimerchen, einer Plastikflasche oder zumindest einer Konservenbüchse mit Wasser. Zum Sauberwischen mit der linken Hand. Getrennt nach Männlein und Weiblein gehen die Pilger auf dem Bahndamm in Position, to perform the morning job – also um ihr Morgen-Geschäft zu verrichten. Die Damen erledigen das weitgehend im Schutze ihres Saris, während die Herren zwar ihr Gesicht wahren, dafür aber ungeniert die blanke Kehrseite dem im Zug vorbei rauschenden Publikum  präsentieren. Wer es übrigens komisch findet, dass man in einfachen indischen Toiletten selten Klopapier aber wenigstens einen Wassereimer, oft sogar eine Po-Dusche findet, sollte wissen, dass Inder unsere Reinigungsmethode für eine unhygienische Schmiererei halten.

Dem Morgengeschäft folgt in der Regel ein ausgedehntes Bad. Auch das kann man vom Zug aus beobachten. Entweder schüttet man sich das Wasser eimerweise über den Kopf oder nimmt ein  Vollbad im Teich oder im Fluss. Die Frauen tauchen meist in voller Montur unter, dann sind die Klamotten auch gleich gewaschen.

Am nächsten Bahnhof – wir haben inzwischen Bekal erreicht – gibt es Frühstück: Zugestiegene Essensverkäufer preisen Pakoras, Samosas, Omelets, Tschai und Kappi = Kaffee an. Ich nehme einen Becher Kaffee für fünf Rupien und weil der Verkäufer auf meinen Zehn-Rupien-Schein nicht rausgeben kann und auch kein Trinkgeld will, gleich noch einen zweiten. Zwei Kaffee für umgerechnet nicht einmal 20 Euro-Cent!

Noch eine Stunde bis Mangalore. Da klingelt mein Handy. Wer kann das sein? Meine neue indische Nummer kennt doch noch kaum jemand. Der Anrufer stellt sich als Zorro vor. Er sei mein Fahrer und warte auf mich am Bahnhof von Mangalore. Das muss ein Missverständnis sein. Ich habe kein Auto bestellt, sondern will in knapp drei Stunden mit dem nächsten Zug nach Gokarna Road weiterfahren. Aber tatsächlich fängt mich Zorro direkt ab, als ich aus dem Zug klettere – ein schmächtiges Kerlchen, dem man schon wünscht, der Plan der Eltern, dem Sohn mit dem Namen auch die Kraft eines Westernhelden mitzugeben, sei wenigstens teilweise aufgegangen.  Hartnäckig besteht Zorro darauf, dass er eigens dafür angeheuert sei, mich zum Gateway Hotel zu bringen, wo ich frühstücken und duschen könne, dann werde er mich wieder zum Bahnhof fahren.

Da hat es mal wieder besonders gut mit mir gemeint, dabei habe ich mich schon so darauf gefreut, mal wieder das Leben und Treiben auf dem Bahnhof zu beobachten und in der Bahnhofskantine eine leckere Paratha mit Sambar zu essen. Allenfalls die Aussicht auf eine Dusche ist verlockend. Aber trotzdem bin ich ziemlich vergrätzt über meine Freunde von unserer Agentur in Delhi. Dass die mir nicht zutrauen, allein mit einem läppischen Zugwechsel zurecht zu kommen. Dabei habe ich in den vergangenen 31 Jahren bestimmt mehr Reiseerfahrungen in Indien gesammelt als die meisten Inder.

Ich beschließe, mich weiterer Bemutterung soweit wie möglich zu entziehen. Nach gut zehn Minuten fährt Zorro beim Taj Gateway Hotel vor. Obwohl ich hier ja nur duschen und frühstücken will / soll, muss ich die komplette Anmeldeprozedur samt Eingabe der Passnummer absolvieren. Die Dusche tut natürlich richtig gut, aber im Restaurant erwartet mich eine weniger willkommene Nachricht: Der General Manager freut sich auf ein Gespräch mit mir. So ist das eben in Indien. Nichts ist wirklich umsonst. Ich dehne das Frühstück aus, damit der angedrohte Smalltalk möglichst kurz ausfällt. Und richtig, kaum habe ich die Lobby betreten und mich dem Hotelchef ausgeliefert, da naht auch schon Erlösung in der Gestalt von Zorro, der zum Aufbruch drängt.

Jetzt muss ich mir etwas einfallen lassen, denn ich will unbedingt vermeiden, dass er mich auf meinen gebuchten Platz im Zug verfrachtet. Ich habe mir nämlich vorgenommen nicht in der klimatisierten Klasse zu fahren, sondern mich in der nicht klimatisierten Klasse unters Volk zu mischen.

Während Zorro Richtung Bahnhof rast, bitte ich ihn, an einer Uhrmacherwerkstatt zu halten. Ich brauche tatsächlich ein neues Armband für meine Uhr und eine Batterie. Er hält tatsächlich an einem winzigen Schuppen, der mehr wie eine Schrottbude als eine Werkstatt aussieht. Der Uhrmacher stinkt nach Fusel und guckt auch ziemlich schräg aber er wühlt aus einem Müllberg tatsächlich ein Päckchen Batterien und sogar ein, wenn auch nicht ganz passendes Armband heraus, baut die Batterie ein und befestigt das Armband und verlangt 60 Rupien, nicht mal einen Euro.

Zorro wird von Sekunde zu Sekunde nervöser. Aber meine Rechnung geht auf. Wir erreichen den Bahnhof in letzter Minute, während er nach einmal Parkplatz sucht, mache ich mich selbst mit meinem Gepäck auf den Weg. Er will gleich nachkommen und mir meinen Platz zeigen. Ich steige in den erstbesten Wagon, der noch etwas Platz bietet und gehe in Deckung. Gleich darauf taucht Zorro auf, sieht sich suchend um und spurtet an mir nach vorn zu den Wagen der besseren Klasse. Hoffentlich findet er jetzt meinen Platzt nicht. Da setzt sich der Zug in Bewegung. Gleich drauf klingelt mein Telefon. Zorro fragt, ob ich meinen Platz gefunden habe. Ich lüge und verspreche, nicht zu petzen, dass er mich nicht ordnungsgemäß abgeliefert hat.

Ein Blick auf den Bahnsteig erinnert mich darauf, dass mir gestern Abend schon etwas komisch vorkam, ich aber nicht recht wusste, was mich verwundert hatte. Jetzt weiß ich’s. Auf den Bahnhöfen ist es picobello sauber. Das war nicht immer so. Von früheren Bahnfahrten kenne ich Bahnhöfe, die waren schmutziger als der versiffteste Saustall.

Ich schaue mich im Abteil um. Es ist hier schon etwas schnuddeliger als in der besseren Klasse. Aber die Fahrt nach Gokarna, meiner nächsten Station dauert ja nur vier Stunden.

Zunächst hoffe ich, dass ich niemand den Platz weggenommen habe. Der Kontrolleur weist mich darauf hin, dass ich eigentlich einen besseren Platz gebucht habe. Ich soll an der nächsten Station nach vorn umsteigen. Ich glaube, er hält mich für spinnert, als ich ihm sage, dass ich lieber hier bleibe. Ein Mitreisender meckert, er habe eigentlich in der klimatisieren Klasse reisen wollen, aber seine Reservierung sei nicht mehr möglich gegeben. Ich biete ihm an, auf meinen Platz zu wechseln. Nein sagt er, sie seien ja zu viert und außerdem wollten sie bis Bombay. Er reist mit einer jungen Frau, die etwa halb so alt und auch halb so umfänglich wie er ist und den zwei Kindern. Er stellt sich als Baby Roger vor, seine Söhne heißen Gopal (10) und Chandu (8), wo bei der achtjährige genauso alt aussieht wie sein älterer Bruder und von der Statur auf den Vater herauskommt, während Gopal schlank und hübsch ist, wie seine Mutter, deren Name mir verschwiegen wird. Mr. Roger outet sich als Ingenieur, der in Bombay auf einer Großbaustelle arbeitet und für die Schulferien die Familie in die Großstadt mitnimmt. Ob ich nicht für ihn einen Arbeitsplatz in Deutschland wisse, fragt er. Ich teile ihm mit, dass er da erst mal Deutsch lernen solle. Er meint, das sei kein Problem. Tatsächlich sind die meisten Inder sehr sprachbegabt. Er will mir mitteilen, was er von Deutschland weiß und nennt Namen. Zum Glück will er von mir nichts über deutsche Fußballern wissen, dafür aber erwähnt er Karl Marx und Adolf Hitler. Ich mache mich darauf gefasst, ihm zu erklären, warum wir Deutschen nicht so gerne auf den Führer angesprochen werden, da entschuldigt er sich, er sei müde und klettert zum Pennen auf eine obere Liege. Frau und Kinder tun es ihm gleich.

Baby Roger! An dieser Stelle ein kleiner Exkurs über indische Namen. Namen wie in Europa – also eine Kombination Vorname und Familienname –  werden in Indien nur langsam üblich. Wenn jemand also Baby Roger heißt, ist nicht von vornherein klar, ob Baby der Vorname oder der Familienname ist. Das führt bei Anreden aber auch beim Ausstellen offizieller Dokumente zu Verwirrungen. Traditionell hat ein Inder nur einen Vornamen, der zu besseren Unterscheidung oft durch zwei Initialen ergänzt wird. Dabei ist das erste Initial meist der erste Buchstabe des väterlichen Namens, das zweite steht für ersten Buchstaben des Heimatortes der Familie. So bedeutet etwa S.K. Ramesh, dass der Träger Ramesh gerufen wird und ein Sohn von Sabu ist, dessen Familie aus dem Dorf Kendrahar stammt. Manchmal benennen Eltern ihre Kinder auch mit westlichen Namen und Begriffen. Wenn also jemand den Vornamen Baby trägt, dann hat man ihn als Säugling so benannt und niemand denkt sich etwas dabei, wenn er auch als Opa noch so gerufen wird. Populäre Namen dieser Art sind auch Pretty, Shiny oder Flower für Mädchen, Roy, Strong oder Money für Jungs. Joy oder Happy kommen bei beiden vor. Gelegentlich stößt man auf ganz lustige Namen. So kenne ich in Madras einen Guide, der Stalin heißt und auch ein Mr. Pumpernickel ist mir schon begegnet.

Der Zug fährt jetzt in die nächste Station ein. Auf dem Schild lese ich Udupi, obwohl ich keinen Hunger habe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Udupi ist die Heimat der legendären Udupi-Küche. Ursprünglich wurden die leckeren, vegetarischen Gerichte ausschließlich von Priestern und Köchen des berühmten Krishna-Tempels von Udupi gekocht. Heute findet man Udupi Restaurants in ganz Indien. Wer gesund, schmackhaft und preiswert speisen will, ist da immer richtig.

In Udupi steigen neue Gäste ein. Zunächst ein schrecklich verstümmelter Bettler, der auf den Knien durch die Wagons rutscht und seine Hand aufhellt. Nur wenige Passagieren zeigen sich hartherzig. Dann tauchen grell geschminkte Frauen auf, die selbst die schlafenden Fahrgäste durch aggressives Klatschen wecken und betteln, nein regelrecht einfordern. Jeder macht schnell den Geldbeutel auf, denn die Damen zeigen ausgeprägte Rasierspuren und sind tatsächlich keine Frauen, sondern Hijras: Eunuchen, deren Unmut sich keiner zuziehen will, denn Ihre Flüche gelten als sehr gefährlich. Mich lassen sie komischerweise in Ruhe. Aber wenn sie auch bei mir hartnäckig geblieben wäre, hätte ich mich wohl kaum gedrückt, denn ich habe keine Lust, das zu sehen, was sie nicht mehr haben. Die Narben der Kastrationswunde sind partout kein schöner Anblick und es ist mir schon einmal passiert, dass so ein Hijra schon den Sari gelüpft und die Bescherung demonstriert hat, als ich kein Geld rausrücken wollte. Hijras gelten als das dritte Geschlecht. Da sie selbst keine Nachkommen zeugen können, rekrutieren sie den Nachwuchs durch Kindesentführungen und andere kriminelle Maßnahmen. Viele Hijras sind Zuhälter oder selbst Prostituierte. Während meiner Fahrt nach Gokarna kassieren sie dreimal bei denselben Leuten ab.

Ein Muslim mit gehäkelten Mützchen und wallendem Bart steigt zu, und weist den beiden Frauen ihren Platz zu. Die zwei Frauen sind komplett verschleiert, nur die Augen sind zu sehen – geheimnisvoll, vielversprechend und als sie vorübergehen weht ein verführerischer Duft zu mir. Welche Schönheiten mögen in den rabenschwarzen Säcken stecken? Ich frage mich, wie wenig Selbstwertgefühl so ein Despot wohl haben muss, wenn er die Frauen derart vermummen muss.

Der Zug macht jetzt an jeder Station längere Pausen. Er muss jeweils warten bis der Gegenzug vorbei ist, die Strecke führt durch mehrere Tunnels, die nur einspurig zu befahren sind. Wir haben inzwischen bereits eine Verspätung von 50 Minuten. Aber das ist ja noch gar nichts. Sujith ruft mich aus Bangalore an. Er hat gerade im Fernsehen gesehen, dass weiter vorn ein Zug liegen geblieben ist, die Strecke nach Goa deswegen vorrübergehend gesperrt. Aber ich bin ja gleich am Ziel.

Tatsächlich taucht jetzt das Stationsschild von Kumta auf. Dann sind es ja nur noch 20 Minuten bis Gokarna Road. 18 Stunden mit der Bahn. Nicht gerade bequem aber eine wirklich schöne Dosis indischer Alltag. Es hat sich gelohnt.

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